FGSV-Nr. FGSV 002/127
Ort online-Konferenz
Datum 13.04.2021
Titel Verkehrsablauf an signalisierten Knotenpunkten mit hohem Radverkehrsaufkommen (aktualisiert 5.11.2020)
Autoren Dr.-Ing. Axel Leonhardt, Georgios Grigoropoulos, Univ.-Prof Dr.-Ing. Heather Kaths, Dr.-Ing. Michael M. Baier, Dr.-Ing. Marek Junghans
Kategorien HEUREKA
Einleitung

Der Beitrag (aktualisiert 5.11.2020) beschreibt Untersuchungen des Verkehrsablaufs und Erweiterungen für das Berechnungsverfahren zur Bemessung nach dem HBS 2015 für signalisierte Knotenpunkte mit hohem Radverkehrsaufkommen. Zur Analyse des Verkehrsablaufs wurden empirische Untersuchungen des Fahrverhaltens von Radfahrern und Kfz an ausgewählten Knotenpunkten durchgeführt. Die Ergebnisse wurden für die Kalibrierung und die Validierung von mikroskopischen Simulationsmodellen genutzt, die zur Erzeugung von Daten für die Ergänzung des Berechnungsverfahrens eingesetzt wurden. Die Erweiterungen umfassen Ansätze zur Ermittlung von Kapazitäten im Radverkehr und im Kfz-Verkehr, der vom Radverkehr behindert wird.

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1 Einführung

1.1 Vorbemerkungen

Der Beitrag fasst die Ergebnisse des FE 70.0925.2015 „Verkehrsablauf an signalisierten Knotenpunkten mit hohem Radverkehrsaufkommen“ zusammen.

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird bei personenbezogenen Begriffen die männliche Sprachform verwendet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten für alle Geschlechter.

1.2 Ausgangslage und Ziel

Radverkehr ist ein wichtiger Teil eines städtischen Gesamtverkehrskonzepts und Lichtsignalanlagen sind unverzichtbare Einrichtungen in städtischen Straßennetzen zur Steuerung des Verkehrsablaufs an plangleichen Knotenpunkten. In Abhängigkeit von Führung und Stärke des Radverkehrs können Kapazität und Verkehrsqualität aller Verkehrsarten an signalisierten Knotenpunkten unterschiedlich stark beeinflusst werden.

Grundsätzlich zu differenzieren sind Führungen des Radverkehrs im Mischverkehr auf der Fahrbahn mit und ohne Schutzstreifen, auf Radfahrstreifen, auf (fahrbahnbegleitenden) Radwegen, auf gemeinsamen Geh- und Radwegen sowie auf Gehwegen mit Freigabe für den Radverkehr („Radfahrer frei“). Da die beiden letztgenannten Fälle nur bei geringen Radverkehrsbelastungen zum Einsatz kommen, sind sie für die vorliegende Aufgabe nicht relevant.

Die Beurteilung der Verkehrsqualität an Knotenpunkten mit Lichtsignalanlage erfolgt mit dem Verfahren des Handbuchs für die Bemessung von Straßenverkehrsanlagen (HBS 2015 [1]). Bzgl. der Berücksichtigung des Radverkehrs weist das Verfahren an mehreren Stellen Bedarf für weitere Untersuchungen und Erweiterungen auf. Unter Anderem sind folgende Aspekte bisher noch nicht bzw. unzureichend behandelt:

- Kapazitäten im Radverkehr bei Führung auf eigenen Radverkehrsanlagen,

- Kapazität der Kfz bei Führung des Radverkehrs auf aufgeweiteten Radaufstellstreifen (ARAS),

- Kapazität der Kfz beim bedingt verträglichen Rechtsabbiegen (Belegung der Radfahrerfurt durch Radfahrer),

- Bedingt verträgliches Linksabbiegen (Kfz mit Radverkehr, Kfz durchsetzen Radverkehr).

Ziel dieses Forschungsprojekts war es, den Verkehrsablauf an signalisierten Knotenpunkten mit hohem Radverkehrsaufkommen zu analysieren und darauf aufbauend praxistaugliche Ergänzungen für das Berechnungsverfahren nach dem HBS 2015 zu entwickeln.

1.3 Vorgehensweise

Zunächst wurde das Fahrverhalten von Radfahrern an signalisierten Knotenpunkten empirisch untersucht (Kapitel 2). Die dabei gewonnenen Ergebnisse bildeten zusammen mit den Erkenntnissen aus dem Stand von Wissenschaft und Technik die Grundlage für den Aufbau von Simulationsmodellen, mit denen die Datenbasis systematisch erweitert wurde (Kapitel 3). Unter Nutzung der so entstandenen Datenbasis wurden Ergänzungsvorschläge für das Berechnungsverfahren nach dem HBS 2015 abgeleitet (Kapitel 4).

2 Empirische Untersuchungen

Zur Analyse des Verkehrsablaufs wurden an acht Knotenpunkten Videoaufzeichnungen durchgeführt (zwei Knotenpunkte in Berlin, zwei Knotenpunkte in Freiburg und vier Knotenpunkte in München). Auswahlbestimmend war zum einen eine möglichst gute Abdeckung der nach RASt [2] und ERA [3] empfohlenen sowie von in der Praxis realisierten Entwurfssituationen. Zum anderen sollten die Knotenpunkte möglichst hohe Radverkehrsstärken aufweisen.

Im ersten Analyseschritt wurden die Videos manuell gesichtet, um Erkenntnisse über das Auf-stellverhalten der Radfahrer auf Radwegen/Radfahrstreifen/ARAS sowie die Wegewahl der linksabbiegenden Radfahrer über den Knotenpunkt zu gewinnen. Bild 1 zeigt exemplarisch die genutzten Wege (Bild 1, oben) sowie die Wegewahl (Bild 1, unten) der linksabbiegenden Radfahrer in einer Zufahrt des Knotenpunkts Lehener Straße/Eschholzstraße in Freiburg.

Bild 1: Wegewahl linksabbiegender Radfahrer

Es konnte festgestellt werden, dass die linksabbiegenden Radfahrer mehrheitlich die Fahr-bahn und den ARAS nutzen, um dann direkt abzubiegen. Etwa ein Fünftel der bei Rot ankommenden Radfahrer nutzt die Fußgängerfurt zur Querung (etwa 26% der auf der Fahrbahn fahrenden und etwa 4% der auf dem Radfahrstreifen fahrenden). Nur ein sehr geringer Anteil biegt indirekt links ab.

Zur detaillierten Analyse des operativen Fahrverhaltens wurden Fahrprofile von Radfahrern aus Videobeobachtungen in einem mehrstufigen Prozess aus den Videos automatisiert extrahiert und zu Kenngrößen weiterverarbeitet. Die Kameras wurden dabei entsprechend den vor Ort gegebenen Möglichkeiten möglichst hoch und mit einem möglichst guten Blickwinkel in die Knotenzufahrten installiert. Für die Erhebungen wurden zwei unterschiedliche Systeme genutzt: Das System des DLR ist ein mobiles System. Es besteht aus zwei Kameras, die an einem 12 m hohen Mast auf dem Versuchsträger UTRaCar (Urban Traffic Research Car) montiert sind. Das System wurde für die Erhebungen in Berlin genutzt. Das System der TUM besteht aus einer Kamera, die auf einem Mast oder auf/in einem hohen Gebäude installiert wurde. Es kam in München und in Freiburg zum Einsatz. Bild 2 (links) zeigt den Kamerablick von einem Gebäude am Knotenpunkt Schellingstraße/Luisenstraße in München. Die Fahrzeugtrajektorien wurden mit Methoden der automatisierten Bildverarbeitung extrahiert und bzgl. der Fahrzeugart klassifiziert, so dass (nach einer manuellen Qualitätssicherung) Trajektorien von Radfahrern und Kfz vorlagen (Bild 2, rechts).

Bild 2: Kamerablick von einem Gebäude am Knotenpunkt Schellingstraße/Luisenstraße in München (links) und Beispieltrajektorien Radfahrer (rot) und Kfz (lila) (rechts)

Aus den Radfahrertrajektorien wurden verschiedene Kenngrößen ermittelt, die im Folgenden erläutert und mit jeweils einer exemplarischen Auswertung dargestellt sind:

Die Beschleunigung beim Anfahren aus dem Aufstellbereich vor einer Haltlinie bestimmt maß-geblich, wie lange sich Radfahrer im Konfliktbereich mit den Kfz befinden. Sie ist daher eine wesentliche Kenngröße für die Parametrierung des Fahrverhaltens in der Simulation. Bild 3 (links) zeigt die Beschleunigung in Abhängigkeit der Geschwindigkeit am Knotenpunkt Schellingstraße/Luisenstraße in München als Boxplot.

Wunschgeschwindigkeitsverteilungen sind wesentliche Parameter in Simulationsmodellen. Die Wunschgeschwindigkeit kann nicht direkt gemessen werden. Daher wird als Surrogat die maximale erreichte Geschwindigkeit der Radfahrer (Geschwindigkeit nach Beendigung des Beschleunigungsvorgangs aus dem Stand) ermittelt. Bild 3 (rechts) zeigt die kumulativen Verteilungen der maximalen erreichten Geschwindigkeit für verschiedene Knotenpunkte.

Bild 3: Beschleunigung (links) und maximale erreichte Geschwindigkeit für verschiedene Knotenpunkte sowie den Durchschnitt (rechts)

Die Dichte im Stand beschreibt die Anzahl der Radfahrer, die je Quadratmeter Fläche auf einer Radverkehrsanlage vor der Haltlinie warten. Sie kann sowohl als Basisgröße für die Verkehrssimulation dienen als auch für den Entwurf von Straßenverkehrsanlagen (Stauraumbemessung). Die beobachtete Dichte im Stand für die Führungsformen „Radfahrstreifen“ und „Radweg“ sind in Bild 4 (links) als Boxplot dargestellt.

Der Zeitbedarfswert gibt an, wie lange ein Radfahrer im Mittel zum Abfließen an einer Haltlinie benötigt. Da Radfahrer – je nach Breite der Radverkehrsanlage – nebeneinander fahren können, unterscheidet sich die Ermittlung des Zeitbedarfswerts von der des Kfz-Verkehrs. Gemessen wird, wie lange es von Freigabezeitbeginn an dauert, bis der letzte Radfahrer, der bei Beginn der Freigabezeit bereits gewartet hat, vollständig über die Haltlinie gefahren ist. Diese Dauer wird durch die Anzahl der einbezogenen Radfahrer geteilt. In Bild 4 (rechts) sind die mittleren Zeitbedarfswerte für unterschiedliche Breiten des Radwegs/Radfahrstreifens als Boxplot dargestellt.

Bild 4: Dichte im Stand im Aufstellbereich vor einer Haltlinie (links) und mittlere Zeitbedarfswerte beim Abfluss an einer Haltlinie (rechts)

Die Belegungszeit einer Radfahrerfurt ist definiert als die Dauer in Sekunden, die die Konfliktfläche zwischen bedingt verträglich rechtsabbiegenden Kfz und in die gleiche Richtung geradeausfahrenden Radfahrern von Radfahrern belegt ist. Diese Definition ist analog zur Definition der Belegungszeit durch Fußgänger (HBS 2015, S4.4.5, Bild S4-10). Bei der Auswertung betrachtet wurde nur der erste Radfahrerpulk, der nach Freigabezeitbeginn über die Konfliktfläche abgeflossen ist, wobei die Konfliktfläche ununterbrochen von mindestens einem Radfahrer belegt war. Später ankommende Radfahrer, die das Abbiegen der Kfz ebenfalls behindern, sind an dieser Stelle nicht berücksichtigt, da es sich um einen anderen Prozess handelt (Durchsetzen eines Verkehrsstroms). Bild 5 (links) zeigt die Belegungszeiten von Radfahrer-furten für unterschiedliche Anzahlen Radfahrer als Boxplot.

Die Belegungszeit eines ARAS ist definiert als die Dauer von Freigabezeitbeginn bis der letzte Radfahrer, der zu Beginn der Freigabezeit bereits gewartet hat, vollständig über die Haltlinie gefahren ist. In Bild Bild 5 (rechts) sind die beobachteten Belegungszeiten für ARAS am Knotenpunkt Oranienburger Straße/Friedrichstraße in Berlin als Boxplot dargestellt.

Bild 5: Belegungszeiten von Radfahrerfurten (links) und ARAS (rechts)

3 Mikroskopische Verkehrssimulation

3.1 Modellaufbau, Kalibrierung und Validierung

Diese empirisch gewonnenen Erkenntnisse bildeten die Grundlage für die Kalibrierung und die Validierung von mikroskopischen Simulationsmodellen, die zur Erzeugung von Daten für die Erweiterung des Berechnungsverfahrens genutzt wurden. Die Simulationen wurden mit der Verkehrssimulationssoftware PTV Vissim durchgeführt. Bei Modellaufbau, Kalibrierung und Validierung wurden die Ergebnisse aus den empirischen Erhebungen und ergänzend aus der Literatur gewonnene Erkenntnissen ([5] bis [19]) genutzt.

Besonderes Augenmerk beim Modellaufbau wurde auf das „Querverhalten“ der Radfahrer ent-sprechend den Beobachtungen in den Videoaufzeichnungen gelegt. Bild 6 zeigt Eindrücke aus einem Simulationsmodell mit einer Zufahrt mit ARAS.

Bild 6: Abbildung von Radfahrern in PTV Vissim

Geradeausfahrende Radfahrer nutzen auch beim Warten i.W. nur die Breite des Radfahr- bzw. Schutzstreifens (Bild 6a). Behinderungen ergeben sich vor allem für die rechtsabbiegenden Kfz (Bild 6b). Geradeausfahrende Kfz werden leicht behindert, wenn mehrere Radfahrer warten bzw. nebeneinander losfahren. Direkt linksabbiegende Radfahrer wechseln meist stromaufwärts auf den Linksabbiegestreifen und fahren an wartenden Kfz vorbei in den ARAS, um sich vor den Kfz aufzustellen (Bild 6c), bei Grün als Pulk vor den Kfz abzufahren (Bild 6d) und sich beim Abbiegen auf die rechte Straßenseite (auf den Radfahr- oder Schutzstreifen) zu bewegen (Bild 6e).

Das Beschleunigungsverhalten und die Wunschgeschwindigkeiten wurden entsprechend der vorliegenden Daten kalibriert. Die Validierung des Verhaltens der Radfahrer wurde basierend auf den empirisch ermittelten Dichten im Stand, mittleren Zeitbedarfswerten und der Bele-gungszeit durchgeführt. Der Kfz-Verkehr wurde so kalibriert, dass die Zeitbedarfswerte und die Kapazitäten für einen gegebenen Signalplan entsprechend dem HBS 2015 für rechtsabbiegende, linksabbiegende und geradeausfahrende Kfz reproduziert werden, d.h. eine HBS-konforme Simulation ohne Radverkehr dient als Basisfall. Schließlich wurde auch der empirisch beobachtete Einfluss der Radfahrer auf die Kfz beim bedingt verträglichen Rechtsabbiegen in Form der durchschnittlichen Abflusszeit des ersten rechtsabbiegenden Kfz zur Validierung der Simulationsmodelle herangezogen.

Zur Einschätzung der Qualität der Simulation wurde der Welch-Test eingesetzt [5]. Mit dem Welch-Test wird geprüft, ob bei zwei Grundgesamtheiten (Simulation und Empirie) von einem gleichen Mittelwert ausgegangen werden kann (Nullhypothese). Die Nullhypothese ist bestätigt bei einem p-Wert > 0,05.

Bild 7 (links) zeigt die Dichte im Stand auf Radfahrstreifen vor einer Haltlinie. Die simulierten Radfahrer stellen sich im Vergleich zu den realen Radfahrern etwas dichter auf. Mit einer Abweichung von 1,5% im Mittelwert und einem p-Wert von 0,86 ist die Nullhypothese von gleichen Mittelwerten aber bestätigt. Bild 7 (rechts) zeigt die mittlere Wartezeit der bedingt verträglich rechtsabbiegenden Kfz je geradeausfahrendem Radfahrer. Mit einer Abweichung des Mittelwerts von 11% und einem p-Wert von 0,25 ist die Nullhypothese von gleichen Mittelwerten auch hier bestätigt.

Bild 7: Vergleich von Simulationsergebnissen und empirischen Daten: Dichte im Stand auf Radfahrstreifen vor einer Haltlinie (links), und mittlere Wartezeit der bedingt verträglich rechts abbiegenden Kfz je geradeausfahrendem Radfahrer (rechts)

3.2 Überblick über die Simulationsszenarien

Insgesamt wurden vier Simulationsszenarien untersucht. Dazu wurden Musterknotenpunkte mit typischen Führungsformen und Abmessungen entsprechend der Entwurfsrichtlinien (RASt [2], ERA [3]) entworfen. In den Simulationsszenarien wurden Radverkehrsstärken, Kfz-Verkehrsstärken qKfz, Umlaufzeiten tU und Freigabezeitanteile fF systematisch variiert. In Bild 8 sind die vier Szenarien und die Parametrierungen dargestellt.

Bild 8: Überblick über die Simulationsszenarien

Die untersuchte Kenngröße war die Kapazität, da diese auch für die Bestimmung des Auslastungsgrades, der Wartezeit, der Staulänge und der Verkehrsqualität nach dem HBS maßgebend ist. Zusammenfassend stellen die Simulationsergebnisse den Zusammenhang zwischen Radverkehrsstärken und Kapazitäten für die beeinflussten Kfz-Ströme dar.

3.3 Ergebnisse Szenario 1

Die Kapazität des rechtsabbiegenden Kfz-Stroms fällt erwartet monoton mit der Radverkehrsstärke, aber bei hohen Radverkehrsstärken in weniger starkem Maß (siehe Bild 9). Bzgl. der Signalsteuerung wird die Kapazität hauptsächlich vom Freigabezeitanteil beeinflusst, jedoch ist auch zu beobachten, dass die Umlaufzeit mit zunehmender Radverkehrsstärke ebenfalls einen Einfluss auf die Kapazität hat. Der Einfluss der Umlaufzeit ist abhängig von der Anzahl der Aufstellplätze zwischen Haltlinie und Radfahrerfurt, da während der Phasenwechsel die dort wartenden Kfz abfließen können.

Bild 9: Kapazität des Rechtsabbiegers CRA bei Belegung der Radfahrerfurt durch geradeausfahrende Radfahrer für unterschiedliche Umlaufzeiten tU und Freigabezeitanteile fF

Die Kapazität der rechtabbiegenden Kfz hängt auch vom Zufahrtstyp ab (siehe Bild 10).

Bild 10: Kapazitäten des Rechtsabbiegers CRA bei Belegung der Radfahrerfurt durch geradeausfahrende Radfahrer für verschiedene Zufahrtstypen (Umlaufzeit tU = 90s)

3.4 Ergebnisse Szenario 2

Die Kapazität des bedingt verträglichen linksabbiegenden Verkehrsstroms wird von den entgegenkommenden geradeausfahrenden Radfahrern und Kfz stark beeinflusst. Beim Vergleich der Simulationsuntersuchungen zeigt sich, dass der Freigabezeitanteil einen großen Einfluss auf die Kapazität hat. Die Umlaufzeit hat ebenfalls einen Einfluss, der mit steigender Verkehrsstärke der entgegenkommenden Kfz und Radfahrer größer wird (siehe Bild 11). Je größer die Umlaufzeit ist, desto geringer wird bei gleichen Freigabezeitanteilen die Kapazität (großer Ein-fluss der Kapazität im Phasenwechsel).

Bild 11: Kapazität des Linksabbiegers CLA in Abhängigkeit von Umlaufzeit tU und Freigabezeitanteil fF

3.5 Ergebnisse Szenario 3

Es stellte sich heraus, dass die Kapazität der geradeausfahrenden Kfz relativ unabhängig von der Verkehrsstärke der geradeausfahrenden Radfahrer ist. Dieses Ergebnis ist auf das (beobachtete und so in der Simulation eingestellte) Fahrverhalten der Radfahrer zurückzuführen, wobei geradeausfahrende Radfahrer hauptsächlich auf der rechten Seite des ARAS halten. So wird der Kfz-Verkehr generell kaum beeinflusst. Bei hohen Radverkehrsstärken stauen sich wird und weitere Radfahrer keinen zusätzlichen kapazitätsmindernden Einfluss auf den Kfz-Verkehr haben.

3.6 Ergebnisse Szenario 4

Die Kapazität der Kfz nimmt bei steigender Anzahl linksabbiegender Radfahrer ab. Da sich durch den ARAS die linksabbiegenden Radfahrer vor den Fahrzeugen positionieren, hängt die Kapazität der linksabbiegenden Kfz von der Zeitlückenakzeptanz der linksabbiegenden Radfahrer ab. So sind bei steigendem Verkehrsaufkommen der entgegenkommenden Geradesausfahrer kleinere Zeitlücken zu erwarten, was zu einer zusätzlichen Verringerung der Kapazität führt.

4 Erkenntnisse für das Berechnungsverfahren im HBS 2015

Auf Basis der Erkenntnisse aus den empirischen und den Simulationsuntersuchungen werden folgende Anpassungen bzw. Erweiterungen für das Berechnungsverfahren nach dem HBS 2015 vorgeschlagen:

Zeitbedarfswerte des Radverkehrs bei der Führung des Radverkehrs auf eigenen Radverkehrsanlagen in Abhängigkeit der Breite

Die Kapazität einer Radverkehrsanlage kann analog zur Kapazität des Kfz-Verkehrs bei unbehindertem Abfluss über die Zeitbedarfswerte und den Freigabe- bzw. Abflusszeitanteil bestimmt werden (siehe Bild 4 rechts). Dies ist von Interesse, da bei hohem Radverkehrsaufkommen durchaus ein Reststau bei Grünende möglich ist. Auf Basis der empirischen Daten wurden Zeitbedarfswerte tB,Rad in Abhängigkeit der Breite BRad der Radverkehrsanlage ermittelt (siehe Tabelle 1).

Tabelle 1: Zeitbedarfswerte tB,Rad im Radverkehr in Abhängigkeit der Breite der Radverkehrsanlage BRad

Behinderung von geradeausfahrenden Kfz durch Radverkehr auf ARAS

Bei der Anordnung von ARAS lässt sich erst ab einer Radverkehrsstärke von etwa 100 Rad/h ein Effekt auf die Kapazität des Kfz-Verkehrs feststellen. Als abgeleiteter Ansatz wird vorgeschlagen, bei einer Radverkehrsstärke ≤ 100 Rad/h keinen Zeitabschlag und bei einer Radverkehrsstärke von > 100 Rad/h pauschal einen Zeitabschlag von 1 s anzusetzen.

Belegungszeit der Furt durch Radfahrer bei bedingt verträglich rechts abbiegenden Kfz

Aus den Simulationsergebnissen ergibt sich, dass die Kapazität des Kfz-Verkehrs von der Radverkehrsstärke auf der nebenliegenden Furt und dem Freigabezeitanteil für den Kfz-Verkehr abhängig ist. Daraus wurde ein Faktor für die Abminderung der Kapazität des Kfz-Verkehrs bei unbehindertem Abfluss abgeleitet.

Die Kapazität des Kfz-Verkehrs ergibt sich danach zu:

Formel (1) siehe PDF.

Formel (2) siehe PDF.

Bild 12: Faktor zur Abminderung der Kapazität des Rechtsabbiegers in Abhängigkeit der Radverkehrsstärke auf der nebenliegenden Furt und dem Freigabezeitanteil fF für den Kfz-Verkehr

Durchsetzen von Radfahrern durch bedingt verträglich links abbiegende Kfz

Wie die Simulationsergebnisse zeigen, haben die Kfz- und Radverkehrsstärken im Gegenverkehr einen erheblichen Einfluss auf die Kapazität des bedingt verträglich geführten Linksabbiegestroms im Kfz-Verkehr. Deshalb wird die Kapazitätsabminderung für den Kfz-Verkehr durch Kfz und Radfahrer im Gegenverkehr „direkt“ in Abhängigkeit dieser beiden Verkehrsstärken vorgenommen. Dazu erfolgt eine Umrechnung in Pkw-Einheiten mit 0,75 Rad = 1 Pkw-E. Der Faktor  für die Abminderung der Kapazität des Kfz-Verkehrs bei unbehindertem Abfluss ist in Bild 13 dargestellt.

Die Kapazität des Linksabbiegers ergibt sich damit zu:

Formel (3) siehe PDF.

Bild 13: Faktor zur Abminderung der Kapazität des Linksabbiegers in Abhängigkeit der Verkehrsstärke im Gegenverkehr (für Freigabezeitanteile fF = 0,20 und fF = 0,50)

5 Fazit und weiterer Forschungsbedarf

Ziel dieses Forschungsprojekts war es, den Verkehrsablauf an signalisierten Knotenpunkten mit hohem Radverkehrsaufkommen zu untersuchen und darauf basierend das bestehende Berechnungsverfahren im HBS 2015 zur Ermittlung der Verkehrsqualität zu überprüfen und ggf. anzupassen bzw. zu ergänzen.

Zur Erzeugung von Daten für die Überprüfung und Erweiterung der Berechnungsverfahren wurden Simulationsmodelle eingesetzt, da die empirischen Untersuchungen nicht alle Situationen und nicht das gesamte Wertespektrum relevanter Kfz- und Radverkehrsstärken abdecken konnte. Die mikroskopische Verkehrssimulation hat sich als geeignetes Instrument zur Erzeugung von Daten für die Überprüfung und Weiterentwicklung der Berechnungsverfahren herausgestellt. Einerseits kann das Fahrverhalten der Radfahrer und der Kfz im Detail parametriert werden, andererseits können die für die Berechnungsverfahren benötigten Daten relativ direkt erzeugt und ausgegeben werden. Zukünftig gewonnene empirische Erkenntnisse können helfen, die Simulationsmodelle noch besser zu kalibrieren. Während zu den Geschwindigkeiten, den Beschleunigungen sowie zum Aufstell- und Abflussverhalten der Radfahrer nun weitgehende Erkenntnisse vorliegen, fehlen vor allem noch detaillierte Informationen zur Zeitlückenakzeptanz (Rad durchsetzt Kfz-Verkehr und umgekehrt).

Aufbauend auf den Empirie- und Simulationsergebnissen wurden Ansätze für mehrere Ergänzungen und/oder Anpassungen des Berechnungsverfahrens im HBS 2015 aufgezeigt.

- Führung des Radverkehrs auf eigener Radverkehrsanlage (Radweg bzw. Radfahrstreifen),

- Berücksichtigung des Einflusses durch vor dem Kfz-Verkehr stehenden und abfließenden Radfahrer bei Anordnung von ARAS,

- Berücksichtigung des Einflusses direkt neben dem Kfz-Verkehr geführter, geradeausabfließender Radfahrer auf die Kapazität des Rechtsabbiegestroms im Kfz-Verkehr,

- Berücksichtigung des Einflusses von Radfahrern im Gegenverkehr auf die Kapazität des Linksabbiegestroms im Kfz-Verkehr.

Zur Führung des Radverkehrs im Mischverkehr ohne und mit Schutzstreifen und den dabei auftretenden Effekt des „Vorbeifahrens rechts“ an der Warteschlange des Kfz-Verkehrs, zur Beeinträchtigung des Abflusses bedingt verträglich rechts- und linksabbiegender Radfahrer durch Fußgänger auf der in der Knotenpunktausfahrt liegenden Furt sowie zur Betrachtung des indirekten Linksabbiegens von Radfahrern konnten keine konkreten Verfahrensergänzungen abgeleitet werden. Hier konnten jeweils nur Hinweise gegeben werden, die durch geeignete empirische Untersuchungen im Rahmen weiterer Forschungsarbeiten aufzugreifen sind.

6 Literatur

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