FGSV-Nr. FGSV C 11
Ort Münster
Datum 09.03.2010
Titel Entwurf und Bemessung von Stützkonstruktionen aus stahlbewehrten Erdkörpern
Autoren Prof. Dr.-Ing. Lutz Wichter
Kategorien Erd- und Grundbau
Einleitung

Das Bauverfahren „Bewehrte Erde“ hat seit seiner Entwicklung in Frankreich zu Beginn der 1960er Jahre weltweit große Verbreitung gefunden. Bewehrte-Erde-Stützkonstruktionen zeichnen sich durch Kostengünstigkeit, Sicherheit auch bei Erdbebenbeanspruchung und kurze Bauzeit aus. Nur in Deutschland fand das Verfahren aus Furcht vor möglicher Korrosion der Stahlbänder bisher kaum Anwendung. Forschungsergebnisse konnten die Bedenken hinsichtlich der Langzeitbeständigkeit der Bänder inzwischen ausräumen. Im Aufsatz wird der neueste Stand der Kenntnis über das Korrosionsverhalten und die mechanische Beanspruchung der Bewehrung mitgeteilt, und es werden Beispiele für die Anwendung des Verfahrens vorgestellt.

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1 Einleitung

Um das Jahr 1965 entwickelte der französische Ingenieur Henri Vidal in Zusammenarbeit mit dem Laboratoire Central des Ponts et Chaussees (LCPC) ein neuartiges Bauverfahren zur Errichtung von Stützwänden und nannte es „la terre armee“. Auf einem streifenförmigen Montagefundament wird eine Reihe dünnwandiger Betonelemente („Außenhaut“) aufgestellt. Die (zunächst niedrige) Wand aus Betonelementen wird lagenweise hinterfüllt, auf die Hinterfüllung werden verzinkte Stahlbänder aufgelegt, an die Betonelemente angeschlossen und überschüttet. Dann wird die nächste Lage der Außenhautelemente montiert und hinterfüllt. Die Bewehrungsbänder werden an die Elemente angeschraubt, überschüttet, usw., bis die Endhöhe erreicht ist. Auf diese Weise entstehen Stützkonstruktionen, die vor allem aus Erde bestehen und anstelle üblicher Gewichtsstützmauern eingesetzt werden. Das Bild 1 zeigt das Prinzip einer Bewehrte-Erde-Stützwand im Vergleich zu einer Gewichtsstützmauer.

Bild 1: Prinzip einer Bewehrte-Erde-Stützwand im Vergleich zu einer Gewichtsstützmauer

Nach einer aktuellen Schätzung sind seit der Entwicklung des Bauverfahrens Bewehrte Erde in der Mitte der 1960er Jahre weltweit Stützkonstruktionen mit einer Ansichtsfläche von ca. 30 Millionen Quadratmeter nach diesem Verfahren erstellt worden. Das Bild 2 zeigt die weltweit stetig zunehmende Verbreitung der Bewehrten-Erde-Konstruktionen im Zeitraum von 1968 bis 2009.

Bild 2: Weltweite Anwendung des Bauverfahrens Bewehrte Erde im Zeitraum von 1968 bis 2009, gemessen in Quadratmetern Ansichtsfläche pro Jahr (Grafiken: terre armee)

In Deutschland sind bisher Stützbauwerke als Bewehrte-Erde-Konstruktionen mit einer Ansichtsfläche von nur ca. 71.350 m2, also 0,182 Prozent der Gesamtmenge weltweit, errichtet worden. Bei Reisen in europäischen und außereuropäischen Ländern sieht man Bewehrte-Erde-Konstruktionen, leicht erkennbar an den charakteristischen, meist mehr oder weniger kreuzförmigen Betonplatten der Außenhaut, auf Schritt und Tritt. Der Grund für die offensichtliche Nichtwahrnehmung des (kostengünstigen) Verfahrens bei den Bauherren und Unternehmen in Deutschland liegt in Bedenken, die man im vergangenen Jahrhundert im Hinblick auf die Dauerhaftigkeit der in den Boden eingebetteten Stahlbänder hatte. In der Zwischenzeit sind die Vorbehalte gegen das Bauverfahren durch Forschungsergebnisse entkräftet worden. Dieser Aufsatz soll dazu dienen, das Verfahren erneut vorzustellen und den aktuellen Stand des Wissens über die zeit- und kostensparende Bauweise zu vermitteln.

2 Geschichte des Verfahrens in Deutschland

Henri Vidal stellte das neue Bauverfahren im vergangenen Jahrhundert in mehreren Veröffentlichungen vor (Vidal 1969) (Vidal 1972). Von Frankreich aus verbreitete es sich rasch in West- und Südeuropa und trat von dort aus seinen Siegeszug in die westliche Welt an. Stützkonstruktionen aus Bewehrter Erde zeichnen sich durch vergleichsweise geringe Kosten, hohe Tragfähigkeit, Dauerhaftigkeit und nicht zuletzt hohe Widerstandsfähigkeit gegen Erdbebenbeanspruchung aus. Letztere Eigenschaft hat Bewehrte-Erde-Konstruktionen in erdbebengefährdeten Regionen der Welt wie Japan, Korea, Malaysia, Türkei und Kalifornien zu einer Standardbauweise werden lassen.

Im Jahr 1976 wurde das erste Bewehrte-Erde-Bauwerk in Deutschland gebaut, seinerzeit noch mit einer Zustimmung im Einzelfall des Bundesministers für Verkehr (Bongartz 1976). Im gleichen Jahr berichteten auch Steinfeld (Steinfeld 1976) sowie Floß und Thamm (Floss, Thamm 1976) über die Bauweise, nachdem weltweit bereits viele Erfahrungen damit gesammelt worden waren. Maluche (Maluche 1976) stellte die Vorteile des Verfahrens gegenüber herkömmlichen Bauweisen heraus und verglich die Baukosten mit denjenigen konventioneller Stützwände. Es schien, als habe das Verfahren in Deutschland den gleichen erfolgreichen Einsatz vor sich wie in den anderen Ländern Europas, in Amerika, Asien oder Australien. Die Bundesanstalt für Straßenwesen erarbeitete Vorläufige Richtlinien für die Anwendung des Bauverfahrens „Bewehrte Erde“, die im Jahr 1977 vom Bundesminister für Verkehr im Straßenbau eingeführt wurden (Bundesminister für Verkehr 1977). Dann wurde jedoch die Dauerhaftigkeit feuerverzinkter Stahlbänder als Konstruktionselemente in den spezifizierten sandigen Füllböden angezweifelt. Der Anlass dazu waren einige Fälle von Korrosion an Bändern aus Edelstahl, die man in Frankreich anstelle der verzinkten Bänder eingesetzt hatte. Es folgte ein mehrjähriges vom Verkehrsministerium finanziertes Forschungsprogramm, unter anderem mit der Langzeitauslagerung von Bandabschnitten in natürlicher Umgebung, über dessen Ergebnisse Nürnberger im Jahr 1984 erstmals berichtete (Nürnberger 1984). In der DDR war im Jahr 1982 die „Vorschrift für die Berechnung, bauliche Durchbildung und Montage von Stützbauwerken und temporären Brückenunterbauten aus Bewehrter Erde“ für den Bereich der Wasserstraßenverwaltung veröffentlicht worden (Hanspach, Linde 1982). Im Jahr 1983 veröffentlichte die Bauakademie der DDR im Sonderheft II der Bauinformationen die Vorschrift 120/82 Blatt 1 „Bewehrte Erde; Bewehrung mit Stahlbändern“ der Staatlichen Bauaufsicht (Staatliche Bauaufsicht der DDR 1983).

Im Jahr 1985 erließ der Bundesminister für Verkehr die „Bedingungen für die Anwendung des Bauverfahrens Bewehrte Erde“ (Bundesminister für Verkehr 1985). Die Vorschrift wird im weiteren Verlauf dieses Aufsatzes mit BABBE abgekürzt. Das Interesse an dem Bauverfahren war inzwischen in Westdeutschland jedoch verloren gegangen, zumal die Ingenieure des Brückenbaus ihren Überbau nicht auf Bewehrte Erde Widerlager aufsetzen mochten. Seit der Herausgabe der Vorschrift durch den Bundesminister für Verkehr vor mehr als zwanzig Jahren sind im öffentlichen Bereich nur ca. 30 Bewehrte-Erde-Bauwerke gebaut worden.

Weltweit wurden hingegen schätzungsweise über 110.000 Einzelprojekte nach der Bauweise der Bewehrten Erde ausgeführt.

Der Arbeitsausschuss 5.6 Grundbau der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen hat auf der Basis in 40 Jahren weltweit gewonnenen Erfahrungen mit dem Bauverfahren und der internationalen Bemessungspraxis ein „Merkblatt für die Anwendung des Bauverfahrens Bewehrte Erde“ erarbeitet, in dem auch das Sicherheitskonzept mit Teilsicherheitsbeiwerten berücksichtigt wurde. Das Merkblatt soll die vor 25 Jahren eingeführten

„Bedingungen für die Anwendung des Bauverfahrens Bewehrte Erde“ ersetzen.

3 Mechanische Grundlagen des Verfahrens

Das Prinzip der Bodenbewehrung nutzt die Menschheit bereits seit Jahrtausenden bei der Herstellung von Lehmbauten. Dem feuchten Lehm werden Stroh oder Fasern aus anderen Pflanzen beigemischt, die dem trocknenden Lehm Zugfestigkeit verleihen und dadurch das Entstehen von Rissen verhindern.

Seit über 100 Jahren wird das Prinzip der Bewehrung eines Baustoffes im Stahlbeton angewandt. Der Baustoff Beton besitzt eine hohe Druckfestigkeit, aber nur eine vergleichsweise geringe Zugfestigkeit. Bei der Stahlbetonbauweise werden in den Beton deshalb in Zonen, wo Zugspannungen zu erwarten sind, Stahlstäbe eingelegt, die diese Zugspannungen aufnehmen und den Beton bewehren.

Böden besitzen keine technisch verwertbare Zugfestigkeit. Im mechanischen Sinne bewirkt das gerichtete Einlegen von zugfesten Elementen in Böden, dass dem so bewehrten Erdkörper eine Zugfestigkeit in Elementrichtung verliehen wird. Man kann sich den durch Stahlbänder bewehrten Boden als eine Art Kompositbaustoff vorstellen. Für eine Standsicherheitsberechnung ist die Modellvorstellung eines Kompositbaustoffes aus Boden mit eingelegten Stahlbändern jedoch nicht zu verwenden. Dazu ist ein einfaches mechanisches Modell hilfreicher, das im Folgenden erläutert wird.

Hinterfüllt man eine vertikale starre und unverschiebliche Wand mit Erde und verdichtet diese, so übt die Erde auf die Wand einen Erddruck aus, den man auch Verdichtungserddruck nennt. Dieser Verdichtungserddruck hängt von der Bodenart, der Wandhöhe und natürlich von der Intensität der Verdichtung ab. Er ist größer als der aktive Erddruck Ea und dürfte in den meisten Fällen im Bereich des Erdruhedruckes E0 liegen. Das Bild 3 zeigt den Zusammenhang zwischen der Wandverschiebung s eines Stützbauwerkes und dem Erddruck.

Bild 3: Zusammenhang zwischen der Wandverschiebung s eines Stützbauwerkes und dem Erddruck E

Gestattet man nun der hinterfüllten Wand eine Verschiebung in Richtung +s, so fällt der Erddruck auf den aktiven Erddruck Ea ab. Wenn der aktive Erddruck Ea erreicht ist, lässt eine weitere Wandverschiebung den keilförmigen Gleitkörper des aktiven Erddruck entstehen, dessen durch den Wandfuß gehende Gleitfläche unter dem Winkel von 45° + j/2 gegen die Horizontale geneigt ist (Bild 4). Der Winkel j ist der Reibungswinkel des Bodens. Wenn diese Gleitfläche von den Stahlbändern des Bewehrte-Erde-Verfahrens geschnitten wird, versucht der aktive Erddruck, der auf die Rückseite der Wand (Außenhaut) wirkt, die Bänder hinter der Gleitfuge aus dem Boden herauszuziehen. Um die Konstruktion des Stützbauwerkes stabil zu halten, müssen die Bänder durch die Reibung auf ihrer Oberfläche am Herausziehen gehindert werden, das heißt die Reibung muss groß genug sein. Außerdem muss der Stahlquerschnitt groß genug sein, damit die Bänder nicht reißen. Für den Nachweis der Standsicherheit einer Bewehrte-Erde-Stützkonstruktion gilt es also nachzuweisen, dass die Stahlbänder einen ausreichenden Querschnitt bei vorgegebener Stahlqualität besitzen, und dass die Bänder in ihrer Gesamtheit eine ausreichende Verankerung gewährleisten. Die Verankerung jedes Bandes im Boden hängt von seiner Tiefe zi, seiner Länge lwi hinter der Gleitfuge, der Bandbreite b, dem Reibungsbeiwert fs zwischen Band und Boden und der Wichte γ des Bodens ab.

Bild 4: Beispiel für die Aktivierung der Haltekraft eines Bandes

4 Technik der Herstellung

Die Technik der Herstellung einer Stützkonstruktion aus Bewehrter Erde ist einfach. Auf einem in der Regel unbewehrten Montagefundament wird eine Anfängerreihe der vorgefertigten Betonelemente versetzt und luftseitig temporär gestützt. Die Elemente werden bis zur Höhe der Anschlusslaschen mit Füllboden hinterfüllt. Auf den verdichteten Füllboden werden die verzinkten Bewehrungsbänder aufgelegt und an die verzinkten Anschlusslaschen mit verzinkten Schrauben angeschlossen. Die nächste Lage Füllboden wird bis zur Unterkante der nächsten Reihe Betonplatten der Außenhaut eingebaut und dann diese Elementreihe montiert, usw.. Wenn die endgültige Konstruktionshöhe erreicht ist, werden die oberen Abschlussplatten montiert. Die Bilder 5 bis 8 zeigen die Herstellung einer Stützwand nach dem Verfahren der Bewehrten Erde.

Bild 5: Montage der Außenhaut aus Stahl-Außenhaut (Foto: Brüggemann)

Bild 6: Anschluss der Stahlbänder an die betonplatten (Foto: Brüggemann)     

Bild 7: Überschütten der Bewehrungsbänder (Foto: Brüggemann)      

Bild 8: Ansicht eines fertiggestellten Bewehrte-Erde-Bauwerkes

5 Bemessung

Die Standsicherheitsnachweise für Bewehrte Erde Konstruktionen werden im neuen Merkblatt nach dem Sicherheitskonzept mit Teilsicherheitsbeiwerten geführt. Die charakteristischen Bodenkennwerte sowie die Kennwerte der Einwirkungen von ständigen oder temporären Lasten werden in Bemessungswerte umgerechnet. Bewehrte Erde Konstruktionen werden in den Grenzzuständen der Tragfähigkeit (GZ 1) und der Gebrauchstauglichkeit (GZ 2) untersucht. Auf eine detaillierte Darstellung der Bemessung wird hier verzichtet und auf das neue Merkblatt verwiesen.

5.1 Äußere Standsicherheit

Mit dem Begriff der äußeren Standsicherheit ist die „globale“ Standsicherheit des bewehrten Erdkörpers selbst gemeint. Dieser Erdkörper, bestehend aus der Außenhaut, dem Füllboden und den eingelegten Bewehrungsbändern, wird dabei so behandelt, als sei er ein starres Stützbauwerk. Für dieses Stützbauwerk werden dann wie für ein konventionelles Stützbauwerk (z. B. eine Winkelstützmauer aus Stahlbeton) in Deutschland folgende Nachweise verlangt:

  • Nachweis der Kippsicherheit (Nachweis, dass die Resultierende der am bewehrten Erdkörper angreifenden Kräfte die Sohlfuge im Kern schneidet),
  • Nachweis der Gleitsicherheit,
  • Nachweis der Grundbruchsicherheit,
  • Nachweis der Geländebruchsicherheit.

Im Regelfall sind diese Nachweise erfüllt, wenn die Mindestbandlänge (L ³ 0,7 H) eingehalten wird. Die Forderung nach den vier Nachweisen ist aus der Verlegenheit über die Beurteilung der seinerzeit neuen Bauweise entstanden, denn natürlich verhält sich der bewehrte Bodenkörper nicht wie ein „quasi-monolithischer Verbundkörper“.

Die Standsicherheit von Bewehrte-Erde-Konstruktionen wird in allen Ländern, in denen das Bauverfahren seit langem zum alltäglichen Baugeschehen gehört, über die Beanspruchung jedes Einzelbandes nachgewiesen, nachdem aus zahlreichen Untersuchungen eine genaue Kenntnis des Ortes und der Größe der maximalen Bandzugkräfte gewonnen wurde.

5.2 Innere Standsicherheit

Der Nachweis der inneren Standsicherheit umfasst die Dimensionierung der Konstruktionselemente Außenhautplatten, Bewehrungsbänder und Anschlüsse. Es sind nachzuweisen:

  • Sicherheit gegen Herausziehen der Bewehrungsbänder aus dem Füllboden,
  • Sicherheit gegen Bruch der Bewehrungsbänder,
  • Sicherheit gegen Bruch der Anschlüsse der Bewehrungsbänder an die Laschen,
  • Sicherheit gegen Ausbruch der Laschen aus der Außenhaut.

Die Außenhautplatten sind nach den Vorschriften für den Stahlbetonbau im jeweiligen Anwendungsland zu bemessen.

5.3 Neuere Erkenntnisse zur Bemessung und Ausführung

Aus zahlreichen Messungen und Beobachtungen an Bewehrte-Erde-Bauwerken weltweit haben sich Verbesserungsmöglichkeiten in den Bemessungsansätzen ergeben, die im Folgenden kurz dargestellt werden. Diese Verbesserungen haben keine grundlegend neuen Aspekte in die Bemessungspraxis eingebracht. Ihre Berücksichtigung trägt aber dem mechanischen Verhalten von Stützkonstruktionen aus Beton- oder Stahlaußenhaut, Erde und eingelegten Stahlbändern besser Rechnung.

5.3.1 Position der maximalen Zugspannungen in den Bewehrungsbändern

Die Einzelbänder erfahren ihre maximale Zugspannung in Abhängigkeit von ihrer Tiefenlage in unterschiedlichem Abstand von der Außenhaut. Die maximale Zugspannung tritt also nicht genau dort auf, wo die Bänder die theoretische Gleitfuge des aktiven Erddrucks schneiden. Am Wandfuß herrscht die maximale Zugspannung wie zu erwarten unmittelbar am Anschluss Band-Außenhaut. Nach den „Bedingungen für die Anwendung des Bauverfahrens Bewehrte Erde“ waren die Orte maximaler Zugspannungen in den Bändern auf einer Linie anzusetzen, die von der Rückseite des Wandfußes unter dem Winkel δa = 45° + ϕ/2 gegen die Horizontale bis zur halben Wandhöhe verlief. Von dort bleiben die Orte maximaler Zugspannung in gleichbleibendem horizontalem Abstand zur Wandrückseite. Durch eine Vielzahl von Messungen ist inzwischen belegt, dass eine bessere Annäherung an die wirklichen Verhältnisse möglich ist. Die französischen, englischen und amerikanischen technischen Regeln zum Bewehrte Erde Verfahren geben für den Ort der maximalen Zugspannungen andere Linienzüge an, die auf einer breiten Datenbasis beruhen, und die im Bild 9 auf der linken Seite dargestellt sind. Sie wurden bei der Erarbeitung des Merkblattes übernommen.

Bild 9: Orte maximaler Zugspannungen (OMZ) in den Bewehrungsbändern nach französischer und britischer Norm (links) und (alter) deutscher Vorschrift (rechts)

5.3.2 Erddruck im bewehrten Bodenkörper

Der Erddruck im bewehrten Bodenkörper wird durch die eingelegten Bänder und durch den Schütt- und Verdichtungsvorgang beeinflusst. Nach den BABBE war zur Ermittlung des Erddruckes im bewehrten Bodenkörper beginnend am Fuß der Außenhaut bis zur halben Konstruktionshöhe der Erddruck mit dem Erddruckbeiwert des aktiven Erddruckes ka zu ermitteln. An der Oberfläche des bewehrten Bodenkörpers war der Ruhedruckbeiwert k0 = 1 – sin ϕ anzusetzen, der bis zur halben Konstruktionshöhe linear auf den Beiwert des aktiven Erddrucks zu verringern war. Die Forschungen und Messungen seit der Einführung der BABBE im Jahr 1985 zeigen, dass mit einem anderen Erddruckansatz eine bessere Annäherung an die Erddruckwirklichkeit erreicht wird. Danach ist ausgehend vom Ansatz des Erdruhedrucks an der Geländeoberfläche bis zu einer (empirisch ermittelten) Grenztiefe 6 m der Erddruckbeiwert linear abnehmend auf den Beiwert des aktiven Erddruckes anzusetzen. Unterhalb von 6 m herrscht dann der aktive Erddruck.

Nach den BABBE war bei gerippten Bändern, die heute in der Regel Verwendung finden, der Bandreibungsbeiwert mit f = tan ϕ anzusetzen; maximal durfte mit f = 0,7 (entsprechend ϕ = 35°) gerechnet werden. Es hat sich herausgestellt, dass oberhalb von 6 m bedingt durch die Dilatation des verdichteten Bodens bei der Scherung auch die Reibungsbeiwerte zwischen Band und Boden zunehmen. Unterhalb von 6 m ist nach den neueren Erkenntnissen nach wie vor mit f = tan ϕ zu bemessen. An der Geländeoberfläche könnte mit f = 1,2 + log (D60/D10) gerechnet werden, maximal jedoch mit f = 2,0 (entsprechend ϕ = 63°).

5.3.3 Erddruck auf die Außenhaut

Durch die Bewehrungswirkung der Bänder kann sich der Erddruck auf die Rückseite der Außenhaut nicht voll entwickeln. In den BABBE war gefordert, dass die Außenhaut für den vollen Erddruck gemäß der klassischen Erddrucktheorie von Coulomb bemessen wird. Um negativen Einflüssen aus der Verdichtung des Füllbodens entgegenzuwirken, ist dies gerechtfertigt. Für den Anschluss der Bänder an die Außenhaut darf die Zugkraft in den Bändern mit dem Faktor 0,85 abgemindert werden. Nach neueren Erkenntnissen sollte ab einer Tiefe von 60 Prozent der Gesamthöhe diese Abminderung nicht mehr gelten. Die Anschlüsse sollten am Wandfuß für die nicht abgeminderte Bandkraft bemessen werden.

  • Sicherheit des Einzelbandes gegen Herausziehen

In den BABBE wurde verlangt, dass jedes Einzelband eine Sicherheit von h = 2,0 gegen Herausziehen besitzen sollte. Diese Forderung ist nach den inzwischen vorliegenden Erfahrungen unbegründet.

5.3.5 Materialkennwerte der Stahlbänder

Für die Bewehrungsbänder wird weltweit standardmäßig ein Stahl St 52-3 U (S355JO nach DIN EN 10027-1) verwendet. Die zulässige Spannung für diesen Stahl ist wesentlich höher und kann bei der Dimensionierung der Bänder entsprechend ausgenutzt werden.

5.3.6 Verzinkung der Bewehrung in den Platten der Außenhaut

In den BABBE wurde eine Verzinkung der gesamten Bewehrung der Betonplatten der Außenhaut verlangt. Diese Verzinkung ist aus heutiger Sicht nicht notwendig, denn die Bewehrung wird durch die Alkalität des Betons wirkungsvoll geschützt. Notwendig und hinreichend für den Korrosionsschutz ist eine ausreichende Betondeckung der Bewehrung und eine gute Betonqualität, wie Nürnberger in feststellt. Die Forderung nach einer Verzinkung der Bewehrung in den BABBE dürfte einen nicht unwesentlichen Beitrag an der (nach den inzwischen vorliegenden Erkenntnissen unbegründeten) Ablehnung des Verfahrens in der Vergangenheit in Deutschland geleistet haben.

6 Langzeitbeständigkeit der Stahlbänder

Nürnberger fasste die Ergebnisse der langjährigen Untersuchungen an verzinkten Stahlbändern (im Otto-Graf-Institut in Stuttgart) zusammen und stellt das Korrosionsverhalten feuerverzinkter Baustähle in Böden dar (Nürnberger 1989) (Nürnberger 1996). Die Einlagerungen der Bänder über einen Zeitraum von 4,5 bis 12 Jahren und die anschließenden Untersuchungen erbrachten folgendes Ergebnis (Zitat):

In Böden für „Bewehrte Erde“ werden feuerverzinkte Bänder im baupraktischen Sinne kaum durch Korrosion angegriffen. Nur wenn durch Störfälle (beispielsweise Flussüberschwemmungen) frühzeitig Salze in den Baukörper eingetragen werden und dieser häufig bis ständig feucht ist, kann ein merklicher Zinkabtrag stattfinden, ohne dass jedoch in absehbarer Zeit ein Verlust der Schutzwirkung zu befürchten ist.

Nürnberger gibt dann Abtragungsraten für die Zinkauflage an. Danach ist bei einer ca. 100 mm dicken Zinkauflage die Feuerverzinkung frühestens nach 90 Jahren (in überwiegend trockenem Boden) bzw. 45 Jahren (in häufig feuchtem Boden) aufgezehrt. Er schreibt weiter:

Bei feuerverzinkten Bändern wird nach örtlichem Abtrag des Zinks (in unbelüfteten Böden und/oder bei extremem Salzgehalt) der Stahluntergrund kaum abgetragen. Die zinkfreien Stellen werden durch das noch vorhandene Zink kathodisch geschützt.

Nach dem vollständigen Abtrag der Zinkauflage ist der weitere Abtrag des Stahluntergrundes gleichmäßig. Aufgrund der ausgewerteten Literaturangaben [179] ist für den Stahlabtrag dann maximal 5 mm/a anzusetzen. Bei Berücksichtigung eines Korrosionszuschlages von 2 mm kann man von einer Lebensdauer der feuerverzinkten Bänder ausgehen, die theoretisch bei mehreren 100 Jahren liegt. Einem konventionellen Bauverfahren vergleichbare Lebensdauer ist auf jeden Fall sichergestellt.

Nach diesen Erkenntnissen Nürnbergers kann an der Dauerhaftigkeit von Bewehrte-Erde-Bauwerken auch in Deutschland nicht mehr gezweifelt werden. Natürlich werden die von Nürnberger mitgeteilten Ergebnisse der Untersuchungen in Stuttgart durch Untersuchungen anderer Autoren bestätigt. So geben Darbin et al. in (Darbin, Jailloux et al. 1988) einen Überblick über die Ergebnisse von französischen Untersuchungen zur Langzeitbeständigkeit von verzinkten Stahlbändern im Boden.

7 Beispiele ausgeführter Bauwerke

7.1 Stützwände an der Bundesstraße B 62n Siegen-Weidenau

Die Stützkonstruktion, bestehend aus drei Einzelwänden mit einer Gesamtansichtsfläche von 4.000 m2, wurde in den Jahren 1985/86 im Auftrag des Landesstraßenbauamts Siegen errichtet. Die maximale Höhe des gesicherten Geländesprungs beträgt 17 m, die Gesamtlänge der Konstruktion 422 m. Die Bewehrung besteht aus Stahlbändern des Querschnitts 60 x 5 mm.

Bild 10: Bewehrte-Erde-Stützwände talseits der Bundesstraße B 62n Siegen-Weidenau (Foto: Brüggemann)

7.2 Stützwand am Flughafen in Seattle

Die Stützwand mit einer Ansichtsfläche von 12.100 m2 wurde im Zeitraum vom Oktober 2004 bis September 2005 ausgeführt. Sie wurde erforderlich, um auf dem Gelände hinter der Wand eine dritte Start- und Landebahn zu bauen. Für die Oberflächengestaltung der Betonfertigteile wurden mehr als 250 individuelle Kunststoffmatrizen hergestellt. Die Dicke der Fertigteile der Außenhaut beträgt oben 14 cm und unten 18 cm. Die Bewehrungsbänder aus verzinktem Stahl haben eine maximale Länge von 35 m.

Bild 11: Bewehrte-Erde-Stützwand am Flughafen Seattle (Foto: terre armee)

7.3 Brückenwiderlager und Flügelwände in La Ravoire in Frankreich

Die Brücke befindet sich an der Autoroute A 41 und überquert mit einer Stützweite von 35 m ein kleines Tal. Die maximale Höhe beträgt 23,8 m, die Gesamtlänge der beiden Wände 396 m. Die Wände haben eine Ansichtsfläche von 3.700 m2 und wurden im Jahr 2007 errichtet.

Bild 12: Bewehrte-Erde-Widerlager in La Ravoire – Frankreich (Foto: terre armee)

7.4 Lärm absorbierende Stützwand an der K 20n in Haan-Gruiten

Die Stützwand Brückenstraße wurde im Zuge des Baus der K 20n direkt neben einer Bahnlinie errichtet. Für den Bau war keine Unterbrechung des Bahnbetriebes notwendig. An der Oberfläche war eine hoch absorbierende Schallabsorptionsschicht integriert. Die maximale Wandhöhe beträgt 11 m, die Länge 125 m. Die Wand hat eine Oberfläche von 1.226 m2. Der Bau erfolgte im Jahr 2007 im Auftrag des Kreises Mettmann.

Bild 13: Stützwand an der K 20n in Haan-Gruiten (Foto: Brüggemann)

8 Schlussfolgerungen

Das Bauverfahren Bewehrte Erde hat seit seiner ersten Anwendung in den 1960er Jahren weltweit große Verbreitung erlangt. In Deutschland ist es trotz seiner Vorteile bisher kaum zur Anwendung gekommen. Die Erfahrungen aus mehr als vierzig Jahren der Anwendung in Europa und Übersee und die Ergebnisse zahlreicher wissenschaftlicher Untersuchungen zur möglichen Korrosion der verzinkten Stahlbänder rechtfertigen die anfängliche Skepsis in Deutschland gegenüber dem Bauverfahren nicht. Es bestehen keine technischen Gründe, die Vorteile des Verfahrens (Kostengünstigkeit, Entfallen der Notwendigkeit einer Schalung, geringe Bauzeit, architektonische Gestaltungsmöglichkeiten) nicht auch in Deutschland zu nutzen.

Literaturverzeichnis

Bedingungen für die Anwendung des Bauverfahrens Bewehrte Erde (BABBE). Der Bundesminister für Verkehr, 01/1985

Bongartz, W.: Erste deutsche Stützwand nach dem Bauverfahren „Bewehrte Erde“ bei Raunheim. Straße und Autobahn, 27. Jg. Heft 5, 1976

British Standard BS 8006:1995: Code of practice for strengthened / reinforced soils and other fills. NaBau 05.18.09 Nr. 05-98

Brüggemann, M.: Langjährige Erfahrungen des Tragverhaltens von Bewehrte-Erde-Brückenwiderlagern. Die Bautechnik 2/2010

Darbin, M.; Jailloux, J. M.; Montuelle, J.: Durability of Reinforced Earth structures: The results of a long-term study conducted on galvanized steel. Proc. Instn. Civ. Engrs. 84, Part 1, S. 1029–1057, 1988

Floss, R.; Tham m, B. R.: Bewehrte Erde – ein neues Bauverfahren im Erd- und Grundbau. Die Bautechnik, 53. Jg., Heft 7, 1976

Hanspach, P.; L i nde, G.: Vorschrift für die Berechnung, bauliche Durchbildung und Montage von Stützbauwerken und temporären Brückenunterbauten aus Bewehrter Erde. Mitteilungen der Forschungsanstalt für Schifffahrt, Wasser- und Grundbau. Schriftenreihe Wasser- und Grundbau, Heft 45, Berlin 1982. ISSN 0435-5997

Maluche, E.: Was ist „Bewehrte Erde“? Tiefbau, Hefte 8 und 9, 1976

NF P 94-220: Renforcement des sols – Ouvrages en sols rapportés renforcés par armatures ou nappes peu extensibles et souples – Dimensionnement. AFNOR, Paris, 07/1992

Nürnberger, U.: Korrosionsverhalten von Bewehrungsbändern in Bauwerken aus Bewehrter Erde. Werkstoffe und Konstruktion, Eigenverlag FMPA Baden-Württemberg, S. 198–218, 1984

Nürnberger, U.: Korrosionsverhalten feuerverzinkter Baustähle in überwiegend sandhaltigen Böden. Werkstoffe und Korrosion 40, S. 7–16, 1989

Nürnberger, U.: Gutachterliche Stellungnahme zur Frage des Korrosionsschutzes der Bewehrung von Betonplatten für Bewehrte Erde. Bericht Nr. 34-22263 der Forschungs- und Materialprüfungsanstalt Baden-Württemberg (FMPA – Otto-Graf-Institut), Stuttgart, 1996

Staatliche Bauaufsicht der DDR: Vorschrift 120/82 Blatt 1. Bewehrte Erde; Bewehrung mit Stahlbändern. Bauakademie der DDR, Bauinformation, Sonderheft II, 1983

Steinfeld, K.: Über Stützwände in der Bauweise „Bewehrte Erde“ (la terre armée). Straße und Autobahn, 27. Jg. Heft 4, 1976

Vidal, H.: The principle of reinforced Earth. Highway Research Record no. 282, 1969

Vidal, H.: La Terre Armée. Annales de l'Institut Technique du Batiment et des Travaux Publics, no. 223-229, 1972

Vorläufige Richtlinien für die Anwendung des Bauverfahrens „Bewehrte Erde“. Der Bundesminister für Verkehr, 01/1977

Wichter, L. und Brüggemann, M.: Das Bauverfahren Bewehrte Erde – eine weltweite Erfolgsgeschichte. Straße und Autobahn, 58 Jg. Heft 3, 2007